Hohe Dunkelziffer bei Depressionen

Auf das lateinische Wort für „niederdrücken“ geht der Begriff Depression zurück. Über die Erkrankung aufklären soll der Europäische Depressionstag, mit dem die EDA am ersten Sonntag im Oktober auf das Thema aufmerksam macht. EDA steht für European Depression Association, ein Zusammenschluss von medizinischen Experten und Organisationen. Wir haben aus diesem Anlass mit Nikolai Iakhno, Facharzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum, gesprochen.

Die Depression gilt als Volkskrankheit, bleibt aber gleichzeitig oft unentdeckt und unbehandelt. Woran liegt das?
Das liegt daran, dass es trotzdem noch eine hohe Dunkelziffer gibt. Studien zufolge erleiden mindestens 20 Prozent der Europäer, also auch der Deutschen, einmal im Leben eine Depression. Die Dunkelziffer ist schätzungsweise doppelt so hoch. Bei den Krankschreibungen ist die Depression inzwischen an vorderster Stelle dabei und hat chronische Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems wie Rückenschmerzen überholt. Allerdings wird der Begriff im Alltag auch nicht immer korrekt genutzt, ähnliche Leidensbilder sind zum Beispiel der Burnout oder die Anpassungsstörung, die sich in der Regel nach dem Wegfall der Belastung im Vergleich zur depressiven Erkrankung rasch bessern können. Darüber hinaus muss eine leichte Form nicht unbedingt behandelt werden, und nicht jeder Erkrankte sucht sich überhaupt Hilfe, ob aus Scham oder Unwissenheit. Obwohl die Depression sozusagen gesellschaftsfähig geworden ist.

Nehmen Depressionen denn tatsächlich seit Jahren zu oder wird schlicht mehr diagnostiziert und offener darüber gesprochen?
(lacht) Alles ist richtig. An der Quote hat sich nicht viel geändert, aber die Depression kommt öfter zum Vorschein. Die Gesellschaft ist offener für das Thema geworden, die Aufklärung hat zugenommen und es gibt bessere und schnellere Hilfe als früher. Gleichzeitig gilt die Depression als „prestigeträchtigste“ psychische Erkrankung und manche psychisch Erkrankte geben lieber an, unter einer Depression zu leiden, anstatt ihre eigentliche Erkrankung zu nennen und sogar für sich selbst anzuerkennen. Das ist weniger peinlich. Allerdings wird mit der Begrifflichkeit eben auch nicht immer korrekt umgegangen. Tatsächlich diagnostizieren kann sie aber nur ein Facharzt beziehungsweise Psychiater.

Schlechte Laune, mangelndes Selbstwertgefühl, Müdigkeit – solche Phasen kennt fast jeder. Welche Symptome deuten auf eine „echte“ Depression hin?
Von Selbstdiagnosen rate ich ab. Viele Patienten sagen, sie seien depressiv und nennen bekannte Symptome, anstatt ihre individuellen Empfindungen und Gefühle zu beschreiben. Ein Facharzt wird eine „echte“ Depression aber erkennen. Hauptsymptome sind die anhaltende, das heißt über mindestens zwei Wochen andauernde, Verstimmung, undefinierbarer Leidensdruck, Kraftlosigkeit, schnelle Ermüdbarkeit, Lust- und Interesselosigkeit. Hinzu kommen oft mangelndes Selbstwertgefühl, Konzentrations- und Gedächtnisschwäche, Schuldgefühle, mitunter auch undefinierbare Ängste, die Alltag und Freizeit erschweren beziehungsweise behindern. Wichtig für die Diagnose ist auch die Ausprägung, denn es gibt unterschiedliche Schweregrade von leicht über mittelschwer bis schwer sowie unterschiedliche Verläufe. Mitunter können schwere Depressionen auch von psychotischen Symptomen begleitet werden, zum Beispiel Wahnvorstellungen.

Wie kann Betroffenen denn geholfen werden?
Die Behandlung hängt in erster Linie vom Schweregrad und Verlauf ab. Erster Ansprechpartner ist in der Regel der Hausarzt, der dann zum Facharzt weiterleiten kann, wenn sich der Verdacht auf eine Depression bestätigt. Bei einer leichten Episode reicht „aktives Abwarten“ aus und den Kontakt zum Arzt zu halten, um bei einer Verschlechterung des Zustands weitere Schritte unternehmen zu können. Ab einem mittelschweren Grad ist eine medikamentöse Behandlung und/oder Psychotherapie notwendig, stationär oder ambulant. Die Behandlung kann auch ergänzt werden etwa durch Bewegungstherapie, Ergotherapie oder Sport. Bei einer schweren Depression ist eine medikamentöse Behandlung unumgänglich! Die Angst vor Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Abhängigkeit oder „Veränderung der Persönlichkeit“ ist weitgehend unbegründet und kann in einem ausführlichem Beratungsgespräch ausgeräumt werden. Ich empfehle, den Ratschlägen der Fachleute zu vertrauen.
Grundsätzlich ist eine Depression sehr gut behandelbar und in den meisten Fällen auch vollständig heilbar. Wobei der Erfolg auch vom Zeitpunkt des Beginns abhängt. Je früher, desto besser gilt hier genauso wie bei anderen Erkrankungen.

Was können Angehörige oder Freunde von Erkrankten tun bzw. was sollten sie keinesfalls tun?
Wer bei Freunden oder Angehörigen negative Gemütsveränderungen bemerkt und eine Depression vermutet, kann seine Hilfe anbieten und dem Betroffenen zum Beispiel zum ersten Arzttermin verhelfen und ihn begleiten. Bei leichten Verläufen kann außerdem die Animation zu positiven Aktivitäten hilfreich sein. Bei einem schweren Verlauf wäre es hingegen kontraproduktiv, wenn sich der Betroffene daraufhin weiter verschließt und sich seine Schuldgefühle noch verstärken. Auch dann kann aber der Hinweis auf professionelle Hilfe und die Begleitung zum Experten ein erster wichtiger Schritt sein.

Immer wieder hört man, dass es Monate dauert, bis zum Beispiel ein Therapieplatz frei wird. Bräuchten Erkrankte nicht eigentlich schnell Hilfe?
Das ist korrekt, wenn mit Therapieplatz eine ambulante Psychotherapie gemeint ist. Die Wartezeiten dafür sind tatsächlich oft lang, auch hier im Landkreis ist das Angebot begrenzt, sodass es Wochen oder Monate dauern kann. Eine solche Psychotherapie, die angeraten, aber auch nicht immer zwingend notwendig ist, ist jedoch keine Erste Hilfe und sollte nicht die erste Anlaufstelle sein. Die Behandlung einleiten wird der Haus- beziehungsweise Facharzt, der die Schwere einschätzt und weitere Behandlungsplanung vornimmt. Psychiatrische Ambulanzen wie unsere am Klinikum stehen für Notfälle ohne Wartezeit zur Verfügung.

Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie?
Einschränkungen wie durch den Lockdown mit dem Verlust sozialer Bindungen und dem Wegfall positiver Freizeitaktivitäten können den Zustand ohnehin depressiver Menschen durchaus weiter verschlechtern oder neue Ängste auslösen. Ersterkrankungen speziell wegen der Corona-Krise haben wir hier in der Klinik aber kaum beobachtet. Wir haben unser Angebot weitestgehend aufrecht erhalten können, das gilt für die ambulanten und stationären Kapazitäten, und waren für Notfälle immer erreichbar. Lediglich beim Lockdown konnten wir die meisten bekannten Patienten nur telefonisch kontaktieren. Das ist besser als nichts, kann persönliche Gespräche aber natürlich nicht ersetzen.

Wie stellt sich die Situation aktuell in der Psychiatrie des Klinikums dar?
Wir nehmen in der Regel nur Patienten aus dem Landkreis auf, sind aber trotzdem fast immer voll belegt und an der Grenze der Kapazitäten. Ich persönlich habe in den vergangenen anderthalb Jahren kein vermehrtes Patientenaufkommen gespürt, vielleicht hat sich der ein oder andere aber im Gegenteil auch gescheut, ins Krankenhaus oder zum Arzt zu gehen, um sich nicht anzustecken, so wie es in anderen Bereichen, etwa bei Herzkreislauferkrankungen, der Fall war. Erschwerend kommt aktuell hinzu, dass unsere Kapazitäten aufgrund von Umbauarbeiten eingeschränkt sind. Bis Mai hatten wir 28 Betten in der geschlossenen Station und 28 auf der offenen Station sowie 24 Plätze in der Tagesklinik. Künftig wird die Klinik neben dem tagesklinischen Angebot anstelle der gemischten Stationen über drei überwiegend offene Stationen verfügen, auf denen in erster Linie nach Alter und Art der Erkrankung – allgemeinpsychiatrische Erkrankungen, Suchterkrankungen und ältere Patienten – unterschieden wird. Wir hoffen, bis Ende des Jahres wieder in vollem Umfang Patienten aufnehmen zu können, denn der Bedarf ist da.

Depressive haben mitunter Selbstmordgedanken. Wie häufig endet eine Depression tatsächlich mit Suizid?
Der Suizid beziehungsweise der Selbstmordversuch ist die schlimmste aller Komplikationen bei schweren Depressionen. Risikofaktoren sind eben die besondere Schwere, wiederkehrende Episoden oder bereits vorausgegangene Depressionen und Selbstmordversuche, Suizid in der Familie, Einsamkeit, höheres Alter, der Verlust sozialer Bindungen oder auch des Jobs. Etwa 20 Prozent der schweren Verläufe enden mit vollendetem Suizid, das ist einer der höchsten Werte bei psychischen Erkrankungen. Wenn man alle Erkrankten betrachtet, also auch die leichten Verläufe, sinkt der Wert indes unter zehn Prozent. Generell öfter von Depressionen betroffen sind Frauen, die Selbstmordrate ist indes bei Männern höher.

Sind Depressionen wirklich vererbbar?
Dazu gibt es verschiedene Studien, und wenn die Mutter oder der Vater depressiv war, muss nicht auch das Kind zwangsläufig erkranken. Tatsächlich besteht jedoch ein höheres Risiko, wenn die Erkrankung bei Blutsverwandten aufgetreten ist. Bei Manisch-Depressiven, die zwischen den Extremen Euphorie und Deprimiertheit leben, liegt die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit auf das Kind zu übertragen, sogar bei 50 Prozent. Insgesamt ist die Situation ähnlich wie bei körperlichen Erkrankungen auch, die ebenfalls vererbt werden können. Sie bietet damit aber auch die Chance, frühzeitig gegensteuern zu können.

Nikolai Iakhno (54 Jahre) kommt aus der Ukraine und hat in Donezk Medizin studiert. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Als Arzt war er zunächst in seinem Heimatland tätig, seit 1997 arbeitet er inzwischen in Deutschland, seit elf Jahren als Oberarzt. Vor acht Jahren wechselte er in die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum in Bad Hersfeld, seit sechs Jahren ist er dort Leitender Oberarzt. Nikolai Iakhno ist verheiratet, lebt in Bad Hersfeld und hat zwei erwachsene Kinder. Er spielt gerne Schach und mag Städtereisen. Seine Leidenschaft sind Besuche der Kunstmuseen, vor allem der Gemäldegalerien weltweit. nm Foto,Text: Nadine Meier-Maaz